Hinter den spiegelnden Scheiben rast das nächtliche Norddeutschland vorbei, der Bus ruckelt leise und in der Reihe vor mir knistert einer mit Bonbonpapier. Ich nehme das alles nur halb wahr, da ich mal wieder, wie so häufig in den letzten Tagen beunruhigt auf mein leuchtendes Handydisplay starre. Wieder ein Artikel, in dem es um die Anschläge in Paris geht, dann ein Bericht einer Flüchtlingsfrau, die ihre ersten Eindrücke von Deutschland schildert, dann ein Bericht über die Ölvorräte des IS, wieder Paris, Merkel, die Flüchtlinge vor dem LaGeSo in Berlin, die leeren Straßen von Brüssel. Ich höre auf zu lesen und starre in die dunkle Nacht hinaus. Die Stille fällt mir jetzt erst auf. Deutschland ist ein unglaublich ruhiges Land irgendwie.
Angesichts der aktuellen Lage wird mir zum ersten Mal wirklich spürbar bewusst, in was für einer Welt wir hier eigentlich leben. Wir wenigen Privilegierten in unserer Glaskugel aus Sicherheit, Komfort und Alltagssorgen, die jetzt so peinlich banal wirken.
Noch vor ein paar Wochen quoll mein Facebookstream über mit Post a la „wie du dir deine Träume erfüllst“, „so lebst du dein bestes Leben“ oder „warum du jetzt sofort deinen Job kündigen und auf Reisen gehen solltest“. Wie unglaublich zynisch das jetzt wirkt. Die halbe Welt hat nicht genug zuessen und alles,worüber wir nachdenken können ist, ob wir vielleicht auf Milch verzichten sollten, weil es im Bauch gezwickt hat, ob wir uns heute mal den Venti Latte gönnen sollen, ob die nächste Staffel unserer Lieblingsserie bald auf Netflix kommt. Und wieso das Leben eigentlich so grau und trübe ist im November – ach ja, die Karibik wäre jetzt schön!
Ich schäme mich. Für mein zu geringes politisches Engagement, für all die Demos zu denen ich aus Bequemlichkeit nicht gegangen bin, für die H&M Jeans, die ich trotz des Wissens um die Herstellungsbedingungen gekauft habe, für die dumme Grübelei über meine Zukunft, Urlaubspläne, Beziehungen…
Und nun? Jetzt sind wir alle aufgeschreckt und wachgerüttelt. Was machen wir jetzt mit dem Wissen um die Fragilität unserer Glaskugel? Wann fangen wir endlich an eine Welt zu gestalten in der wir ALLE gleich gut leben können?
Wie wäre es damit in Zukunft Artikel lesen zu können, die uns nicht beschreiben, wie wir unser bestes Leben leben können, sondern solche in denen steht, wie wir ein Leben leben können, dass nicht auf Kosten anderer gelebt wird? Oder sind wir dafür einfach nicht gut genug?
Der Bus fährt immer noch und ich fange wieder an zu lesen. Frankreichs Luftangriffe in Syrien, Putin schickt größtes Kampfflugzeug der Welt nach Syrien, ein brennendes Asylbewerberheim.
Aufwachen reicht offenbar nicht. Grübeln auch nicht. Was also tun? Weitermachen. Besser machen. Offen sein und bleiben. Klüger werden. Sich nicht von Angst leiten lassen.