„Fuck, fuck, fuck“ sage ich laut vor mich hin und starrte die Baumkronen vor mir mit gerunzelter Stirn an. „Wieso macht man sowas? Wie kann man nur so bescheuert sein?“ Meine Hände krallen sich an der Planke auf der ich sitze fest und meine Beine baumeln ungehindert 15 Meter über dem plötzlich heißgeliebten Erdboden.
Irgendwo da unten ist eine kleine Sandkiste voller Kies, die mich auffangen soll und meine Freundin, die vor einer Ewigkeit juchzend in dem Kies gelandet ist und nun geduldig zu mir hochschaut. „Wenn ich es kann, schaffst du das auch“ ruft sie.
„Ich mache es nicht“ erwidere ich, stehe auf, trete einen Schritt zurück und beginne die Haken zu lösen, die mich mit dem erbärmlich dünn aussehenden Seil verbinden. „Ich bin doch nicht verrückt“. Neben mir steht ein Mitarbeiter des Hochseilgartens und lächelt mild. Wie oft er wohl schon mit Angsthasen wie mir zu tun hatte? „Wir haben alle Zeit der Welt“ grinst er mich zuversichtlich an. „Verdammt“ murmele ich und nehme meinen Platz an der Kante der Plattform wieder ein. „Jaaa, super!“ jubelt meine Freundin, während ich die Haken wieder am Seil befestige. „Und jetzt einfach nicht denken, sondern nur noch springen“. Haha, wie stellt sie sich das denn vor? Meine Gedanken rasen von einer Seite meines Kopfes zu anderen und wieder zurück, so dass mir fast schwindelig wird. Ich erinnere mich an mein 20jähriges Ich, das viel draufgängerischer war als ich es jetzt bin. Wann habe ich angefangen mir Unfälle so bildhaft vorstellen zu können? Ich sehe mich unten in dem Kies liegen und fange bei dem Gedanken an zu zittern.
Ok so geht es nicht. Lieber keine Gedanken mehr.
Ich atme tief durch und konzentriere mich auf die Baumwipfel, auf die Sonne, die auf den Blättern tanzt, auf die Vögel, die mich laut zwitschernd zu rufen scheinen. Schön ist es hier.
Das Handy des geduldigen Hochseilgarten-Mitarbeiters klingelt. „Ja, ja, ich bin noch beim Basejump. Nein, ich weiß nicht, wie lange es noch dauert. Ich komme, sobald ich hier fertig bin“.
Mist, ich scheine hier den ganzen Laden aufzuhalten.
„Ok, du musst los, ich mache es doch nicht“ sage ich und will damit anfangen die Haken erneut zu lösen. „Wir haben alle Zeit der Welt“ wiederholt er nur. „Echt? Aber dein Kollege hat doch gerade gesagt…“
„Der kann warten“.
Mist, ich komme also nicht davon.
Das wäre doch immerhin eine Geschichte gewesen: „Ja und dann waren wir im Hochseilgarten und ich wollte einen Basejump machen und als ich gerade springen wollte, musste der Hochseilgarten-Mitarbeiter weg und es ging leider doch nicht mehr. Sooo schade!“
Nein, so lief es nicht, ich musst da wohl durch.
Mittlerweile höre ich die Stimme meiner Mutter in meinem Gedankenkarussell auftauchen. Sie sagt irgendwas von Ängste überwinden und von Selbstüberwindung.
Achja, soll ja ganz gut sein seinen Ängsten nicht nachzugeben. Und genau so jemand wollte ich doch auch immer sein. Eine, die sich nicht von dummen Ängsten um interessante Erfahrungen bringen lässt. Wenn ich das hier jetzt nicht mache, werde ich es definitiv bereuen, das weiß ich.
Ich rutsche wieder ein bisschen näher an die Kante. „Gut so!“ ruft es von unten. Ich höre es nur leise, denn ich habe mein Mantra gefunden: Wendduesnichtmachstdannbereustdueswennduesnichtmachstdannbereustdueswennduesnichtmachstdannbereustdues.
Und dann hole ich tief Luft und springe. Ich überwinde meine Angst nicht, ich springe trotz der Angst. Ich springe der Angst entgegen.
Ein erschrockener Schrei entschlüpft mir als ich ganz kurz fliege. Dann habe ich mit einem Ruck wieder Kontakt zum Seil und sause kontrolliert auf die Kiste mit dem Kies zu. Da sitze ich dann und lache hysterisch und fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr.
„Maaaan, Wahnsinn, sowas Verrücktes!“ strahle ich und gleichzeitig weiß ich, dass ich genau das gebraucht habe: Die Erfahrung, dass die Wirklichkeit viel weniger beängstigend ist, als die Bilder in meinem Kopf.
Vielleicht ist das jetzt mein neues Motto:
Einfach springen. Dann landen. Und dann lachen.