Manchmal ist das Leben viel zu voll von Aufgaben, Pflichten, Eindrücken, Gedanken, Sorgen, Ängsten, Menschen, Lärm und Gewusel. Deswegen haben der Fotograf und ich uns mal für ein Wochenende abgemeldet und sind mit dem Floß über Brandenburgs Gewässer geschippert. Wir haben uns nicht viel vor- und mitgenommen, sondern wollten uns treiben lassen, Ruhe und Langsamkeit neu entdecken.
Langsamkeit und eine neue Sprache
Ruhe? Nix da, nicht mit einem dicken Außenbordmotor am Floß. Langsamkeit aber schon, denn der Gute schafft gerade mal 5 kmh. Wir tuckern von dröhnendem Brummen begleitet durch grüne Kanäle und über glitzernde Seen. Die Welt auf den Brandenburger Wassern ist eine geheime und ganz eigene. Hier sieht man Dinge, deren Existenz einem an Land völlig verborgen bleibt. Hübsche, selbst gebaute Wochenendhüttchen, Baumhäuser, unzählige Hollywoodschaukeln und Hängematten. Auf und am Wasser findet das gute Leben statt. Hier wird gegrillt, gefeiert, geschwommen, gesurft oder sich einfach nur auf dem Schlauchboot treiben gelassen.
Ich stehe am Steuer und lasse meinen Blick schweifen, während der Fotograf sein Stativ aufstellt und kreative Langzeitbelichtungsversuche anstellt – Langsamkeit heute auch in der Fotografie.
Ein bisschen aufregend finde ich das Ganze ja schon, denn ich habe noch nie ein Floß gesteuert Als Fotografenfreundin muss man anscheinend nicht nur Autofahren können und mögen. Was wohl als nächstes kommt? Ein Hubschrauber? Das wär‘ doch mal was. So sinniere ich vor mich hin und beobachte Enten und Schwäne, die unseren Weg kreuzen und wieder verschwinden. Langsamkeit und somit auch die Möglichkeit mal richtig hinzusehen!
Als uns der Krach des Motors zu sehr auf die Nerven geht, werfen wir den Anker aus und kochen Kaffee. Gourmets die wir sind, haben wir den guten Kaffee und unsere Kaffeemühle von Zuhause mitgebracht. Ruhe und Genuss und dazu noch richtiger Luxus, denn das Floß ist mit allen notwendigen Küchenutensilien und einer Kochstelle ausgestattet!
Während wir den heißen Kaffee schlürfen, ballen sich draußen dicke Wolken zusammen und es wird dunkel. Der Wind pfeift durch das kleine Häuschen und in der Ferne grummelt der Donner. Ein Gewitter, wie aufregend! Das Floß schaukelt leise und wir warten gespannt. Jetzt! Jetzt geht es richtig los: Blitz und Donner dicht hintereinander und prasselnder Regen auf dem Dach unserer schwimmenden Behausung. Ich kuschele mich mit meinem Russisch-Sprachführer in eine Ecke und konzentriere mich auf das Kyrillische Alphabet.
Auch das gehört für mich zur Langsamkeit dazu: mich ganz und gar auf eine Aufgabe konzentrieren und mir wirklich Zeit dafür zu nehmen. Ich will auf der Transsib-Reise wenigstens ein bisschen Russisch sprechen und schreiben können und am Anfang dessen steht das mir fremde Alphabet.
Ich fange an, deutsche Sätze mit den neuen Buchstaben zu schreiben und fühle mich zurückversetzt in meine Kindheit. Damals habe ich mit meinen Freundinnen oft versucht Sprachen und Schriften zu erfinden, die nur wir verstehen. Ich schreibe für den Fotografen kleine Briefe in mein Notizbuch und obwohl ich weiß, dass er Russisch in der Schule gelernt hat, erfüllt es mich mit Begeisterung, dass er die Muster, die ich da aufgezeichnet habe, entziffern kann.
Der erste Tag Floß geht mit Nudeln und noch mehr Regen zu Ende und ich freue mich schon auf den See und auf meine neue Geheimsprache am nächsten Tag!
Von Büchern und Fischen
Als ich aufwache, sehe ich direkt in helles Sonnenlicht und spüre das mittlerweile vertraute Schaukeln unter mir. Das Floß ist noch da, der See ist noch da, aber heute ist der Himmel blau!
Nach dem Frühstück wagen wir uns weiter vor in dem Labyrinth aus Grün. Neue Kanäle, neue Seen, neue geheime Gärten und Bootsanleger und während wir so dahin schaukeln und irgendwann auch wieder in einer ruhigen Bucht den Anker auswerfen, entdecke ich etwas, was ich in den letzten Jahren ein bisschen vergessen hatte: Lesen ist wunderbar! Ich hatte seit langer Zeit mal wieder mein Bücherregal geplündert und einige geliebte alte und ein paar vielversprechende neue Freunde mit an Bord genommen. Nun bin ich weg, voll mit neuen Gedanken, Ideen und Geschichten. Ich merke nicht, wie meine Gesäßhälfte einschläft, ich sehe nicht, wie Schwäne das Floß besuchen kommen, ich bin in einer anderen Welt.
Was der Fotograf inzwischen gemacht hat? Hm, ich weiß es nicht so genau, ich glaube er war sehr beschäftigt mit der Ankerkette…
Seeluft – ja auch die Luft auf dem See, nicht nur die Luft an der See – macht hungrig und so ankern wir gen Mittag wieder und ich mache mich auf die Suche nach dem Fischer, den es hier irgendwo in der Nähe des Kanals geben soll. Ziemlich schnell werde ich fündig und kehre mit fetter Beute zurück: zwei dicke Forellen, frisch aus dem Teich gefischt, zwar nicht von mir, aber immerhin!
Und nun geht das richtige Floßleben los: Forellenbraten und Rotwein an Deck und dann ein zünftiges Lagerfeuer am Ufer.
Ruhe finden
Ich habe das hier auf dem Blog noch nicht berichtet, aber Feuer machen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen und einige der wenigen Tätigkeiten bei denen ich wirklich geduldig bleiben kann.
Fürsorglich schichte ich Stöckchen auf Papier, Äste auf Stöckchen und Balken auf Äste. Der Fotograf darf nicht helfen und schon gar nicht den Stapel berühren und womöglich zum Einsturz bringen!
Und dann ist es soweit. Das Feuer prasselt leise, die Sonne geht langsam unter und der See liegt spiegelglatt vor uns.
Und plötzlich ist die Ruhe da. Spürbar.